Serbien Marit Neukomm Januar 2017
Samstag, 14.01.2017
Jeder Versuch, über die Ungarische Grenze zu kommen, wird verhindert, mit Gewalt und Folter von der Polizei. Die Flüchtlinge berichten immer wieder die gleiche Prozedur: hinter der Grenze (egal ob 2km oder 20km in Ungarn drin) werden sie gefangen genommen, sie ziehen sie aus (bei -17 Grad), schlagen sie mit Stöcken, schubsen sie wie Spielbälle zwischen einer Reihe mit Hunden und der anderen Reihe von schlagenden Polizisten hin und her, dann übergiessen sie sie mit kaltem Wasser, verbrennen zum Teil ihre Hände mit glühenden Holzstücken, halten ihnen die Pistole an die Schläfen und schiessen in die Luft, nehmen ihnen alle Kleider, Decken und Schuhe weg und verbrennen diese, zerstören ihre Handys, machen sich lustig über sie und pushen sie zurück über die Grenze nach Serbien.
Plötzlich erhält fresh Response Notfall SMSen mit Bitten um Kleider und Schuhen, welche oft auch in der Nacht verteilt werden, damit die Menschen nicht erfrieren. MSF arbeitet unglaublich toll und wir können jederzeit sehr viele gute Wolldecken haben. Kleider und vor allem Schuhe als Spenden lassen die Serben nicht rein!! Fresh response arbeitet mit mehreren lokalen Helfervereinen zusammen und ermöglicht somit den verschiedenen Verstecken oder Transitzonen pro Tag eine Mahlzeit. Gekocht werden darf nur von Locals zb!
Vor 2 Tagen wurden 200 Flüchtlinge gewaltsam nach Presevo zurückgebracht, alle Zelte wurden dabei zerstört. Die, die davonrennen konnten, leben jetzt nur noch mehr in Angst. Wir treffen die Menschen in heruntergekommenen Abbruchgebäuden, sie sind alle so dankbar für das Wenige, was wir bringen (Essen und Trinken), es entstehen sofort interessante Gespräche, einige Männer sind (noch) gut gelaunt, andere haben keinen Ausdruck mehr im Gesicht. Jede Kuh lebt bei uns im Stall besser als diese freundlichen Männer. Sie fragen nach Schuhen, Jacken, keiner hat einen Schlafsack für diese Nacht, alles wurde ihnen genommen, sie fragen nach Schmerzmitteln wegen den vielen Schlägen. Sie bieten uns von ihrem wenigen Essen an, wollen, dass wir zu ihnen an das kleine Feuer sitzen - an ihren wärmenden Platz.
Dann sagt einer: "Danke, Miss, ihr gebt uns so viel."
Ich antworte: "wir geben euch ja nur das, was ihr zum Überleben braucht"
Er: "aber mehr brauchen wir nicht, das bedeutet uns alles."
Wie demütig sie sind und wie ich mich schäme. Sie bieten uns ein Hustenbonbon an, das sie von unserem deutschen Freund bekamen: "you have to take it, it's all we have"! Sie zeigen uns ihre Schlafstelle: Dreck, Decken, Rauch.
Wieder zurück in der Stadt packen wir für alle 70 Männer einen Sack mit Socken, Schal und Handschuhen. Decken bekommt jeder 1-2. Zurück in dem Gebäude verteilen wir die Sachen und nehmen noch die Schuhgrössen auf: wir wünschen eine sichere Nacht und sagen ihnen: morgen kommen die Schuhe und Jacken!
iSonntag, 15. Januar 2017
Heute Morgen stand Einkaufen auf dem Plan: Schuhe je 10x Gr 42, 43, 44 und Wundversorgung & Medis.
Doch wie lange können die Menschen die Schuhe behalten? Einige von ihnen sagten heute: "we go to the game tonight", heisst: wir versuchen die Grenze zu überqueren, ohne dass die Polizei uns fängt, foltert und zurückbringt.
Bei jedem Versuch wird ihnen alles genommen, die Kleidung, das Handy, die Würde, die Hoffnung!
Im Warehaus packen wir die Kleiderbestellungen vom Vortag und die Essensäcke.
Dann fahren wir einen geheimen Verteilort an, welchen den 70 Flüchtlingen (die Anzahl schwankt immer zwischen 50-250) mit Whatsup mitgeteilt wird. Dort verteilen wir heimlich das einzige Essen und Trinken, das sie pro Tag erhalten:
2 Karotten, 1 Orange, 3 Zwiebeln, 1 Apfel, 1 Laib Brot, 5-6 Kartoffeln, 1.5L Wasser
Es ist nicht viel, aber wenigstens etwas. Jeden 2. Tag erhalten sie einen Plastikteller voll warmem Essen von serbischen Volunteers (Ausländer dürfen nicht kochen).
Dann gehen wir die Kleidersäcke holen und fahren in das verlassene Gebäude, um diese zu verteilen.
Jeder hätte neue Schuhe nötig, neue Hosen, Pullover. Aber die Spendenkleider sind so gering, weil die Serben diese nicht reinlassen (nur über hochoffizielle NGO's!!), dass nur die aller schlimmsten Fälle neue Schuhe erhalten.
Dann gibt es diese Geschichten. (-> Schal und Socken sind meist genügend verfügbar) Ein Mann wollte keinen 2.Schal und ein Paar Socken annehmen weil: "others have less than me"! Dabei friert er unendlich in der Nacht.
Ein Junger Pakistani hat am Fuss und an der Hand Frostbeulen, er wurde daraufhin ins Krankenhaus gefahren und dort wurden ihm die Frostbeulen (Blasen) aufgeschnitten. Heute, eine Nacht später ist der Zeh doch schwarz, ebenfalls die Fingerkuppe. Er beklagt sich nie, er will weiter: I go to the game. Er setzt sein Leben aufs Spiel.
Wir geben noch unsere grosse Powerbank einer Gruppe von sehr freundlichen Männern und verabschieden uns mit "stay safe and be carefull on the game" - mit dem Wissen, dass sie noch einige Male versuchen müssen, diese Grenze zu überqueren - mit den folternden Polizisten und beissenden Hunden in der eiskalten Nacht!
Where in Europe is Humanity???